Meine Poetik

Der Inhalt

Erlebnisdichtung, „Dichtung, in der persönliches Erleben verarbeitet und objektiviert wird“ (Duden). Ja, in meinen Gedichten geht es um subjektive Erfahrungen und Erlebnisse, auch wenn ich in einem Prozess der Sublimierung und Abstraktion stets darum bemüht bin, diese „Gegenstände“ so darzubieten, dass auch ein fremder Leser sich davon angesprochen fühlt. Ich kann mir denken, dass die Vertreter der post-post-moder­nen Lyrik jetzt die Nase rümpfen, weil dieses Element meines Schreibens und Dichtens nicht in die lyrisch-literarische Landschaft von heute passt. Gleichviel …

Selbst wenn ich mal nicht das lyrische Ich sprechen lasse und in die Rolle einer anderen Figur schlüpfe  -  wie im Falle der balladesken Chronik über die Jakobkemenate in die Rolle des Heiligen Jakob, der von der Kapellenwand aus das Geschehen von Jahrhunderten an sich vorbei ziehen lässt  -,  steht persönliches Empfinden im Vordergrund. In dieser Reimchronik, einer alten Form der Sangspruchdichtung, geht es zwar um die Darstellung des Schicksals eines 800-Jahre alten Gemäuers, nun aber nicht als trockene Wiedergabe historischer Fakten, sondern in Form der stark emotional geprägten Innensicht eines rückwärts schauenden Betrachters: da spielen Kritik, Zorn, Erschrecken, Verzweiflung, Ratlosigkeit ebenso hinein wie Nachsinnen, Erstaunen, Lob, Zustimmung, Freude, Begeisterung  -  all das dominiert von einer die Macht von Zeit und Wandel reflektierenden Grundhaltung.

Das Thema Zeit klingt nicht nur hier an. Es ist eines meiner Lieblingsthemen (z.B. „Zeitgedanken“, Stationen). Den Sonett-Zyklus über Freundschaft und Liebe durchzieht die Zeit geradezu leitmotivisch. Die Ich-Findung der Dichter-Figur ist hier geprägt von einem Zeitempfinden, das sich deutlich von der Rolle der Zeit unterscheidet, wie sie Shakespeare seinem (den Stationen als Vorbild dienenden) Sonett-Zyklus zuweist. Im Shakespeareschen Werk ist es, dem barocken Zeitempfinden entsprechend, durchgängig die äußere Macht der Zeit, die alles zerstört, die Zeit als Sensen­mann, die Mensch und Welt der Vergänglichkeit unterwirft und allenfalls durch das Wort des Dichters in ihre Schranken gewiesen werden kann. In den Stationen ist es weniger diese äußere Macht der Zeit, die das Ich durchlöchert, mit ihm ihr Spiel treibt, es in die Pflicht nimmt und einen Heilungsprozess einfordert, als eine innere Macht der Zeit, eine innere, subjektive Zeit mit ihrer heilenden Kraft.

Was im „Prolog“ zu den in den Stationen auftretenden Gestalten gesagt wird:
    „Gespalten, führ’n sie vor, was Seelen tief erregt:
    wie Liebe, Freundschaft, Sehnsucht, Eifersucht, wie Hass
    nicht Jugend nur, auch Alter je und je bewegt
    und auf die wechselhafte Zeit ist kein Verlass“
und sich, aufs Gesamt dieser Dichtung bezogen, als „Achterbahn der Gefühle“ ausnimmt, als Wechselbad der Gefühle mit seinem Rauf und Runter, seinem Hin und Her, seinem Schwanken zwischen Hoffnung und Enttäuschung, zwischen Zuneigung, Entfremdung und Abneigung  -  solche oder ähnliche Emotionen durchziehen auch sonst häufig meine lyrischen Texte.

Demgegenüber steht aber ein Thema, dass ebenfalls immer bei mir auftaucht und für das als ein Beispiel das Gedichtbändchen Der andere Frühling stehen möge: das Thema Aufbruch. Mit unterschiedlichen Formen und Versmaßen (vom Lied über Verserzählung bis hin zu Ballade und Sonett) und unter Aufbietung all der Schönheiten, die der Frühlingsanfang nach langer kahler Winterzeit bereitstellt, versuche ich den Aufbruch der Natur in neues Leben als ermutigende Aufforderung an den Menschen zu begreifen, sein bisherigen Leben zu überdenken und sich selbst noch einmal auf den Weg zu machen. Auch in den Stationen taucht der Frühling wieder als Symbol des Aufbruchs auf. Und dort stehen die Jacques Brel, dem französischen Chanson-Sänger, nach-gedichteten Verszeilen:
    „Den Traum, der schier unmöglich scheint, gilt’s zu erträumen,
    den Schmerz des Aufbruchs gilt’s in seiner Brust zu tragen“ …
als neuerlicher Ausdruck des überall in meinem lyrischen Opus anklingenden Aufbruchsgefühls: Aufbruch in die Weite des Neuen, Suche nach Neuem, Wunsch nach neuen Erfahrungen, Wille zum Aufbruch um der Weiterentwicklung des Ichs willen …


Der Raum

Der Raum ist in meiner Poeterey ein zentrales Element, zunächst als äußerer Raum und dann vor allem als innerer Raum. Ich möchte in meinen Texten dich als Leser auf eine Reise in diesen Raum mitnehmen, einen Raum, der anfangs noch mein Raum ist, dann aber  -  so ist es die Absicht des Poeten  -  früher oder später zu deinem Raum wird …

Im äußeren Raum, wie er in meinen Texten in Erscheinung tritt, begegnen dir viele „konkrete“ Elemente, z.B. in den Stationen. Da gibt es einen äußeren Rahmen in Gestalt des Gipfels mit Aufstieg, Verweilen und Abstieg. Da ist die immer wieder in Erinnerung gerufene Bergwelt mit dem Blick hinaus in die unendliche Weite der Landschaft, da ist der Berg selbst, der sich in unterschiedlichen Zuständen präsentiert: im Sonnenlicht, am Tag, in der Nacht, in der Abenddämmerung, im Unwetter, im Nebel … Es gibt Begegnungsorte mit Bauwerk, Hütte, See und Bühne, Spiegelkabinett, Sesselbahn und Einbahnstraße … Es gibt Handlungselemente wie Paragliding, Tanz, Te­lefonanrufe und Bahnreise … Es gibt Situationen in der Menschenmenge, in Kreisen, in Begegnungen … Und da spielt die Natur mit ihrem Reichtum eine große Rolle, be­sonders der Frühling als Sinnbild für Erneuerung und Aufbruch …

Ja, das ganze Arsenal des äußeren Raumes, sein Potenzial dient dazu, dich als Leser in Bewegung zu bringen, dich auf eine Reise zu schicken, auf eine Innenreise. So wie sich für das lyrische Ich, dessen Gestalt der Dichter annimmt, im Fortgang des Textes der Außenraum zu einem Innenraum wandelt, so soll auch für dich allmählich eine Innenwelt entstehen.  Der „äußere“ Raum und das „äußere“ Geschehen, wie konkret oder umrisshaft sie auch immer von dir wahrgenommen werden mögen, sollen zurücktreten zugunsten einer Bewegung im Innern. Gedanken und Gefühle, die der Text auslöst, sollen sich entwickeln. Es sollen deine eigenen Gedanken und Gefühle sein, der Poet  gibt mit den seinigen lediglich den Anstoß dazu. Wichtig dabei ist, dass dieser nun entstehende neue, eigene Raum vom Text nicht eingeengt wird. Mei­ne Aufgabe ist es, mit meinem Gedicht das Empfinden unermesslicher, nicht enden wollender Weite zu erzeugen, in dir einen Raum, eine Landschaft der Seele zu erschaffen, die dich, nachklingend und -schwingend, über das Lesen hinaus trägt …


Der Prozess

Ein Text, allzumal ein lyrischer Text, wird erst zum Text, indem er gelesen oder gehört wird. Nein? Er steht doch gedruckt auf dem Papier! Gewiss, er steht da, besteht aus Buchstaben, Wörtern, Satzteilen, ganzen oder unvollständigen Sätzen. Aber zu seiner eigentlichen Entfaltung kommt der Text erst beim Hören oder Lesen. Er entwickelt sich ganz allmählich. Und er entwickelt sich immer anders, je nachdem ob du oder ich oder ein Dritter ihn aufnimmt. Der Text, den du liest, ist ein anderer als der, den ich lese. Er entsteht immer wieder neu und anders mit all den verschiedenartigen Vorstellungen, Gedanken und Empfindungen, die sich im Hörer oder Leser auftun.

Ja, ich möchte als Poet, dass sich in dem Zwiegespräch, in der Interaktion zwischen dir als Leser und meinem Gedicht etwas auftut, etwas entwickelt. Ich möchte, dass in dir ein Prozess entsteht. Dieses Prozesshafte ist mir aber noch in anderer Hinsicht wichtig! Damit beim Lesen überhaupt ein Prozess entstehen kann, muss der lyrische Text dafür die Voraussetzungen mitbringen. Ein Gedicht, das aus Einzelteilen, aus Bruchstücken, aus Schnipseln besteht, das den Leser mit Bildern aus ständig wechselnden Vorstellungsbereichen konfrontiert und ihn im Lesevorgang dauernd hin und her wirbelt, bringt diese Voraussetzung meinem Verständnis nach nicht mit. Wenn mein Gedicht erreichen will, dass sich in dir eine individuelle Entwicklung vollzieht, dann muss es schon selbst etwas entwickeln, etwas entstehen lassen …

Für den Dichter geht es bereits im Prozess des Dichtens darum, dass er seinen Gegenstand, sein Thema nicht statisch, sondern dynamisch behandelt. Es geht darum, Zustände im Prozess aufzuspüren und dann auch als Prozess wiederzugeben: Wie entsteht Liebe? Wie entsteht Freundschaft? Wie entwickeln sie sich? Wohin führen sie dich? Worin bestehen deren Möglichkeiten? Welchen Gefahren sind sie ausgesetzt? Und es geht darum, auf diesem Wege Räume zu eröffnen, Räume, die so offen, so weit sind, dass du als Leser oder Hörer dich in sie einklinken kannst und dort dann deine eigenen Gedanken und Empfindungen zum Tragen kommen können.


Der Adressat

Wer soll meine Gedichte lesen? Wen und was möchte ich damit erreichen? Oder schreibe ich als Poet womöglich bloß für mich selbst?

Gewiss, der Dichter, so wie ich ihn verstehe, befasst sich beim Schreiben zunächst einmal mit sich und seiner Innenwelt. Gedanken und Gefühle, die ihn bewegen, bringt er zu Papier, um auf diesem Wege mit sich selbst klar zu kommen. In einem lyrischen Text steckt viel vom Dichter selbst drin, mit Sicherheit mehr als in einem epischen Gebilde. Einen Roman kann der Autor über weite Strecken erfinden, ein Gedicht der Poet bestimmt nicht.

Doch ich möchte als lyrischer Dichter in diesem Findungs- und Erkenntnisprozess nicht bei meiner eigenen Person stehen bleiben. Ich möchte dich als Leser dran teilhaben lassen. Ich möchte, dass du in ein Zwiegespräch mit meinem Text eintrittst. Dazu ist vonnöten, dass mein Gedicht dich dazu bringt, für einen Moment bei dir stehen zu bleiben, innezuhalten, dich für die Zeit des Lesens aus deinem Alltag herausheben zu lassen. Es ist gut, wenn es dem Text gleich zu Beginn gelingt, dass diese immanente Aufforderung zum Innehalten auch spürbar wird. Gleich zu Anfang muss sich für dich ein Horizont auftun …

Die Offenheit, mit der du meinem Gedicht gegenüber trittst, darf nicht eingeengt werden. Schon die ersten Zeilen müssen deinen Gedanken und Gefühlen Raum geben. Sie dürfen dich nicht zu stark kanalisieren. Es muss sich bei dir etwas entwickeln können. Deine Vorstellungskraft muss in Bewegung kommen. Das kann nur gelingen, wenn ich als Poet es schaffe, einen Text zu kreieren, bei dem du gedanklich und gefühlsmäßig zwischen meine Zeilen gelangen kannst. Eine Bedienungsanleitung, deren Ziel lediglich darin besteht, Handlungsbeschreibung in reale Handlung umsetzen zu helfen, eignet sich dazu nicht …

Du sollst dich im Leseprozess auf dich selbst und deine Existenz besinnen können, du sollst zur Besinnung kommen. Dies betrifft nicht nur den Anfang des Gedichtes. Auch unterwegs muss sich beim Lesen in deinem Innern etwas ereignen. Deine Gedanken und Empfindungen sollen in verschiedene Richtungen gehen, sollen die Vergangenheit ebenso mit hinein nehmen wie die Gegenwart und die Zukunft. Wer war ich? Was war mit mir? Erinnerung entfaltet sich, rückbesinnende Gedanken stellen sich ein. Wer bin ich? Was ist mit mir? Wo stehe ich? Der momentane Standort tritt ins Bewusstsein. Was wird mit mir sein? Künftiges entwickelt sich in der Vorstellungswelt. Wenn es mir als Poeten gelingt, dass der bei der Lektüre eröffnete Innen-Raum so offen, so weit wird, dass du darin auch am Ende der Lektüre meines Textes weiter schwingst und du deinen Ideen und Emotionen noch eine Weile nach­hängst, dann hat mein Gedicht sein Ziel erreicht.


Die Sprache

Die Sprache in meinen Dichtungen muss klingen. Sprachrhythmus und –melodie, Klang, Lautmalerei und Reim sind mir wichtig. Unabhängig von Vers-, Strophen- und Gedichtform, ist mir an der Natürlichkeit einer rhythmisch fundierten Sprachgebung gelegen. Nichts finde ich störender, als wenn ich beim Lesen fremder Gedichtzeilen auf metrische Unregelmäßigkeiten stoße. Nicht weniger empfindlich ist mein musikalisches Ohr gegen leierig konzipierte Verse, wenn die rhythmische Gliederung zur Gleichförmigkeit neigt. Der Altmeister deutscher Verslehre Wolfgang Kayser hat mit der Definition des Kolons als rhythmisch-abgegrenzter Einheit und der Unterscheidung unterschiedlicher Rhythmen (fließender, bauender, gestauter, strömender Rhythmus) dem Lyriker das Ohr für diese Dinge geschärft. So gilt es im Geschäft der Poeterey nicht nur die Bedeutungsschwere der Sinn-tragenden Wörter zu beachten, sondern auch einen dem jeweiligen lyrischen Gegenstand adäquaten rhythmischen Duktus zu finden. Durch die häufige Verwendung des Enjambements (Übergreifen des Satzes in den nächsten Vers) bemühe ich mich darum, des Öfteren eine Art rhythmisierter lyrischer Prosa darzubieten, die vergessen lässt, dass da überhaupt der Reim am Zeilenende eine Rolle spielt.

Dass ich mich bei alledem der modernen Alltagssprache ebenso bediene wie der dichterischen Hochsprache mit ihren Vorbildern in Klassik und Romantik, ist für mich kein Widerspruch. Der gelegentlich bei mir anzutreffende Stilmix ist gewollt. Auch der häufige Rückgriff auf den Fundes der literarischen Rhetorik, ja geradezu der spielerische Umgang damit gehören zu diesem Vorgehen: Reihung, Wiederholung, Klimax, Antithetik, Anapher, Epipher, Chiasmus etc. verlebendigen nicht nur die Verwendung von Worten, Wortgruppen, Sätzen oder Perioden, sondern dienen auch der gedanklichen Gliederung im Sinne besserer Durchschaubarkeit, größerer Klarheit und pointierender Prägnanz. Noch ein Widerspruch, diesmal vor dem Hintergrund der Forderung, Dichtung, allzumal lyrische, müsse verschlüsseln? Nein! Natürlich gehören dichterische Verfahren wie Verkürzung, Aussparung, Andeutung, Verschlüsselung etc. zu einem Gedicht, aber in einem Grade, die es dem Leser im Akt des Lesens ermöglichen, das Gesagte wieder zu ent-schlüsseln. Das Chiffrierte muss wieder dechiffrierbar sein und darf nicht zu einer Geheimschrift werden, die allein der Dichter und eine Handvoll Eingeweihter verstehen. Jeder literarisch Interessierte sollte in der Lage sein, den lyrischen Text zu „be-greifen“  -  zumindest nach einem nicht zu langen Augenblick des Sich-Eindenkens und –Einfühlens. Die Wahl der zum lyrischen Gegenstand passenden dichterischen Sprache bleibt aber in jedem Fall ein Balanceakt!

Ist all das nun altmodisch, epigonenhaft, nicht im Trend? Aus der Sicht der post-post-modernen Lyrik gewiss. Doch die Gegenfrage sei erlaubt: Sind die Dichter dieser Art von Lyrik etwa keine Epigonen in der Folge der Baudelaire, Rimbaud, Mallarmé? Und wie weit haben sie’s gebracht mit ihrer fragmentarischen, fetzenartigen, dissonant-verfremdenden, Welt-zerstückelnden Dichtungsart? Wie viele Leser und Leserinnen folgen ihnen noch dabei? Ich als Poet möchte jedenfalls das, was die sog. moderne Lyrik seit über hundert Jahren zerlegt, deformiert und desorientiert präsentiert, in meinen eher harmonisch-ganzheitlich ausgerichteten Texten wieder zusammensetzen. Denn ich denke, dass sich der Mensch von heute mittlerweile danach sehnt, die Welt wieder mal als zusammenhängendes Ganzes dargestellt zu bekommen …


Die Form

Nicht nur der sprachlichen, sondern auch der dichterischen Form schenke ich besondere Aufmerksamkeit. Ich bevorzuge die gebundene Rede mit allem, was dazu gehört. So wie mir eine an der Tradition orientierte Sprache mit all ihren klanglichen und rhythmischen Möglichkeiten am Herzen liegt, sind es auch die überkommenen  Formen der Dichtungskunst früherer Zeiten, für die ich eine Vorliebe habe.  Zum Trochäus, Jambus, Daktylus, Anapäst und zu den freien Rhythmen passen eben die alten Gedichtformen am besten.

Da findet sich der stets 4-hebige und paarweise gereimte Knittelvers mit seinem Potenzial, kleine Geschichten zu erzählen. Denn der epische Zug in meiner Lyrik ist unübersehbar, nicht zuletzt deswegen, weil mir ja sehr daran liegt, in meinen Gedichten Prozesse abzubilden (z.B. „Der Frühling unterwegs“). Zum Geschichten-Erzählen gehört die Ballade, diese lyrisch-episch-dramatische Mischform, mit ihrer reichen Geschichte, die mich immer wieder zu neunen Versuchen ermuntert (z.B. „Sisyphus 21“, „Der neue Pygmalion“, Die Jakobkemenate – Eine balladeske Chronik in alter Manier). Auch im Lied habe ich mich versucht, dieser Urform lyrischer Aussprache, der sich gerne der Refrain hinzugesellt (z.B. „Am Meer“). Überhaupt stellt der Refrain, der Kehrreim in fester oder flüssiger Form, ungeahnte Möglichkeiten für den Poeten bereit. Der flüssige Kehrreim mit variierter, der Strophe angepasster Form eignet sich besonders gut dazu, eine zweite Ebene mit eigenem lyrisch-dramatischem Vorgang in das Gedicht einzubauen (vgl. „Sisyphus 21“).

In diesen Zusammenhang gehört mein Bemühen, eine dem jeweiligen lyrischen Gegenstand adäquate rhythmische Sprachform  -  und d.h. dann natürlich auch eine entsprechende Versform  -  zu finden und in der Dichtung umzusetzen. Leider zeigt sich in moderner lyrischer Dichtung, sofern dort überhaupt noch klassische Versformen Verwendung finden, so selten, dass diese verschiedene Qualitäten besitzen. Ist das Wissen darüber verloren gegangen, dass sich  trochäisches, jambisches und daktylisches Sprechen voneinander unterscheiden und der jeweiligen lyrischen Aussprache entsprechen müssen? In meinen Texten führt dies des Öfteren zu wechselnden Metren innerhalb ein- und desselben Gedichtes.

Unübersehbar ist in meinem bisherigen lyrischen Werk die Vorliebe für die Form des Sonetts. Dies hat gewiss damit zu tun, dass meine Gedichte zu einem großen Teil im Bereich der Gedankenlyrik anzusiedeln sind, eben weil sie oftmals ein starkes erlebnishaftes Beteiligtsein und Reflektieren des Dichter-Ichs als Grundlage haben. Die Sonett-Form, die bei mir sowohl in der von der Klassik bevorzugten wie auch in der elisabethanischen Shakespeare-Form zum Einsatz gelangt (vgl. Stationen  -  Sonette um Freundschaft und Liebe), zwingt mit ihren strengen Vorgaben bzgl. Reim- und Strophenanordnung zu strukturierter Durchformung. Besonders die Shakespeare-Form mit ihrem pointierten 2-zeiligen Abschluss schätze ich. Doch beim Sonett  -  wie übrigens auch beim Rückgriff auf das Arsenal der überkommenen Vers- und Strophenformen  -  gehe ich häufig meine eigenen Wege, so wenn z.B. der übliche 5-füßige Jambus zu einem 6-füßigen erweitert wird oder die reguläre Strophenanordnung aus inhaltlichen Gründen zu Variationen in der Druckanordnung führt (vgl. Stationen).

Wie sich zeigt  -  auch hier ein Spiel mit den Formen! Es kommt mir beim Dichten nie auf die sklavische Befolgung von Regeln an, wie sie die Poetiken früherer Jahrhunderte vorschrieben. Warum nun aber nicht den Versuch unternehmen, dem Lebensgefühl des 21. Jahrhunderts, dem besonders im zwanzigsten so oft die Orientierung genommen wurde, mit einem Seitenblick auf die Dichtung früherer Jahrhunderte im Gedicht wieder  etwas mehr Halt zu geben? Der Sprach- und Formenreichtum lyrischer Dichtung vergangener Zeiten ist noch lange nicht ausgeschöpft. Ihn gilt es zurück zu erobern!


Das Gesamtkunstwerk

Meine Lieblingsidee ist ein Text, umgeben von Bildern und Musik, vorgetragen und dargeboten unter Einsatz von Mimik, Gestik und Körper. Gewiss, der Text kann für sich stehen und wird als solcher nur gelesen ... Gewiss, der Text kann beim Lesen in seiner Aussage von begleitenden Bildern unterstützt werden ... Gewiss, es ist möglich, dass der Text stattdessen vorgetragen und, von Musik untermalt, nur hörend rezipiert wird ... Gewiss, es kann auch sein, dass sich beim Vortrag Bilder und Musik hinzu gesellen ... Oder ein Rezitator bietet gar den Text szenisch dar, setzt dabei außer seiner Stimme seine Mimik, seine Gestik, ja sogar seinen ganzen Körper ein, um seine Zuhörer/-schauer nicht nur hörend, sondern auch sehend auf eine lyrische Reise mitzunehmen ... Gewiss, es sind außer der bloßen Text-Aufnahme beim Lesen oder Hören recht unterschiedliche Kombinationen denkbar … Aber als Ideal schwebt mir das Gedicht als Gesamtkunstwerk vor, das all die genannten Elemente miteinander vereinigt und obendrein einem Adressatenkreis als auditives und visuelles Erlebnis vermittelt wird.

Hinzu kommt, dass ich meine Lyrik vor Publikum gerne selbst vortrage. Ich habe da dem französischen Chanson-Sänger Jacques Brel (1929-1978) viel abgeschaut. Meine Untersuchungen zu Brels abgefilmter Vortragskunst haben für die visuelle Dimension des Chansons ans Licht gebracht, dass dreierlei zu unterscheiden ist:

  1. da gibt es Elemente, deren kommunikative Funktion in einer Illustration des Textausschnitts besteht,
  2. solche, die der Verdeutlichung, der Hervorhebung der Textaussage dienen und
  3. welche, die Text-ergänzende Funktion haben, also eine eigene, aus dem Text nicht unmittelbar hervorgehende Bedeutung besitzen.

Besonders die letzte Erkenntnis versuche ich mir beim eigenen Vortrag zunutze zu machen (vgl. die Probenstudie zur balladesken Chronik der Jakobkemenate).

Doch nicht nur das. Überhaupt vermag das Zusammenspiel von Text und Bild mehr als der bloße Text. Daher rührt meine Vorliebe für Bild-gestützte Gedichte (vgl. Die Jakobkemenate,  Der andere Frühling oder die Gedichte zum Jahreswechsel). Das Auge des Lesers liest beides zugleich: Bild und Text. Beide ergänzen, ja verstärken einander. Der Text kann auf die im Foto gegebene Information verweisen oder zurückgreifen. Auch wenn wir es beim Bild-Gedicht nicht mit bewegten Bildern zu tun haben wie beim Vortrag des Chansons durch den Sänger, sondern lediglich mit statischen Bild-Ele­menten, lässt sich die o.g. Kategorisierung übertragen. Durch die Bild-gestützte Darbietung des lyrischen Textes werden kommunikative Bedeutungen transportiert, die dem Gedicht als solchem nur bedingt zu entnehmen sind. Hinzu kommt, dass allein schon in der visuellen Dimension  -  je nach Bild-Gegenstand allerdings unterschiedlich kompakt  -  ein relativ komplexes Bedeutungsgefüge vermittelt wird, indem nämlich jedes Bildelement auch für sich als Bedeutungsträger auftreten kann.

Wenn nun noch Musik dazu kommt, erhält der Text eine weitere Dimension: durch die Art der Komposition, durch die Verschränkung von Text und Musik, durch die Art des Musikvortrags und durch die emotionale Komponente. Die Beispiele, die ich gemeinsam mit meinem Sohn Peer Kleinschmidt (Komponist: www.peer-kleinschmidt.de), vorgelegt habe (Die Jakobkemenate, Der andere Frühling) zeigen dies. Der Komponist lenkt den Zuhörer in eine bestimmte Richtung (Text-einleitend), seine Musik unterstreicht den Text (Text-untermalend) oder lässt dessen Aussage „nach­klingen“ (Text-ausleitend). Durch die Art der Musik werden Gedanken und Gefühle des Hörers geleitet. Da ihn die Musik unmittelbarer anspricht, als dies der Text für sich vermöchte, erleichtert die musikalische Komponente den Zugang zum Text. Die Musik des Komponisten wird das Gedicht so „unter-stützen“, dass es in seinem Eigengewicht nicht geschmälert wird. Ziel des Rezitators und des Komponisten muss sein, dem Text im Sinne des Gesamtkunstwerks zur maximalen Entfaltung zu verhelfen. Es gibt aber auch den umgekehrten Weg: eine eigenständige Komposition ist zuerst da (Peer Kleinschmidt: Rügen 2002), der Poet lässt sich davon inspirieren und schreibt zur Musik ein Gedicht („Am Meer“).

Literaturhinweis - Kurzfassung meiner Poetik:
Eberhard Kleinschmidt: Eine poetische Reise. Das Buch von meiner Poeterey. In: SV-Zeitung. 115. Jahrgang., Nr. 3, Juli, August, September 2013, S. 56–57.