Auf der Suche

Variationen und Reflexionen
über eine Figur in der Verkörperung von Jacques Brel

 

Den Traum, der euch unmöglich scheint, will ich erträumen.
Den Schmerz des Aufbruchs will in meiner Brust ich tragen.
Im Fieber zu verglühen, will ich mutig wagen,
das Land, das unbekannt, zu suchen, niemals säumen.

Durch Liebe will bis zum Zerreißen ich mich zäumen,
bei unvollkomm'ner Liebe nicht an mir verzagen.
Versuchen will ich, kraft- und schutzlos mich zu plagen,
dem fernen Stern zu folgen, stets mich aufzubäumen.

Mir ist egal, ob Aussicht auf Erfolg besteht.
Mir ist egal, wie viel an Zeit dabei vergeht.
Mit ist egal, wenn in Verzweiflung meine Kräfte weichen.

Ich weiß nicht, ob ihr mich dereinst als Helden seht,
mein Ziel jedoch, es zieht mich an wie ein Magnet:
das Glück, den Stern, der unerreichbar scheint, erreichen.


Ein Sonderling bist du, Don Quichotte, du Ritter ohne Furcht und Tadel, du Ritter von der traurigen Gestalt ... Wer hat schon den Mut, sich selbst so merkwürdige Namen beizulegen, frage ich mich. Ein kurioser Typ bist du. Wer dich sieht, muss lachen. Und wie seltsam ist, was du tust, wie ausgefallen! Jeder macht sich über dich lustig! Als Ritter in die Welt hinauszuziehen, wo doch alle Ritter schon längst tot sind! Du kämpfst gegen Windmühlenflügel und denkst, es sei der Große Magier, dein Todfeind. Eine elende Schenke ... ein Schloss, eine Magd und Hure, die Aldonza ... deine Dulcinea, eine Rasierschüssel ... der sagenhafte Goldhelm des Mambrino, der jeden Mann mit edlem Herzen unverwundbar macht. Dinge und Menschen, die du erblickst, verwandelt deine blühende Phantasie. Der Schankwirt ist plötzlich Kastellan und muss dich zum Ritter schlagen. Nicht einmal dem Spiegelritter, der dir das Gesicht der Wirklichkeit vor Augen hält, gelingt es, dich vor dir selbst zu schützen. Noch vom Sterbebett aus willst du zu neuen Abenteuern aufbrechen. Nur ein Phantast macht so etwas ...

Beim besten Willen, Don Quichotte, du Edelmann von der Mancha, wenn ich dich so vor mir sehe, wenn ich sehe, in welch wunderlichem Aufzug du dich aufmachst, wenn ich sehe, wie du handelst - ich kann dich nicht verstehen. Wie kann man so weltfremd sein, so ganz und gar unvernünftig, so blind, so verbohrt! Du hast keinen Blick für das, was in der Welt vor sich geht. Ständig verkennst du die Realität. Dir fehlt der Sinn fürs praktische Leben. Ja, so ist es, dir fehlt, was man praktische Vernunft, was man Lebensklugheit nennt. Denn wie oft rennst du geradezu in dein Verderben, so als liefest du mit verbundenen Augen durch die Welt? Das ist es ja, warum deine Verwandten immer wieder versuchen, dich von deinen unsinnigen Taten abzuhalten. Deswegen sperren sie dich schließlich auch ein. So viel Unvernunft, ja so viel Wahnsinn ist in all deinen Unternehmungen, dass man nur den Kopf schütteln kann! Und wie dumm ist erst, wie du sie ausführst: ohne Schutz lieferst du dich allem aus! Und immer wieder mobilisierst du die letzten Kräfte. Durch nichts lässt du dich abschrecken. Unermüdlich setzt du dich ein, kämpfst für deine Sache, ohne groß nach dem "Warum?", nach dem "Wie?" zu fragen. Dich interessiert überhaupt nicht, wohin das alles führen könnte. Du verleugnest deinen Körper, du stürzt dich ins Verderben, du ruinierst dein Leben. Das ist wirklich gegen jeden gesunden Menschenverstand! Und paradox ist es obendrein, denn du erreichst an keiner Stelle, was du dir vorgenommen hast. Oder vielleicht doch? ... Etwas Unerreichbares erreichen wollen ... Wer macht so etwas? Nur ein Träumer, ein Schwärmer, ein Mensch, der völlig überspannt ist ...

Und trotzdem ... Warum gehst du mir nicht aus dem Sinn? Warum fesselst du mich so? Warum ist so verblüffend, was du tust und wie du es tust? Gerade diese Unvernunft, dieser Widersinn, die deinem Tun anhaften, lassen mich nicht los. Du bist zutiefst überzeugt von dem, was du machst. Du glaubst an deine Sache, du glaubst an deine Ziele, du glaubst an die Menschen. Darum wirkst du so überzeugend. Der unerschütterliche Glaube an dich und deine Aufgabe zum Wohle der Menschheit faszinieren mich, nicht minder die Hartnäckigkeit, mit der du deine Ziele verfolgst, der feste Wille, mit dem du all deine Unternehmungen angehst. Gewiss, auf den ersten Blick erscheint mir ziemlich verrückt, was du dir vornimmst: unmögliche Träume träumen wollen ... im Fieber verglühen wollen ... Orte aufsuchen, zu denen niemand aufbricht ... Menschen bis zur Selbstaufgabe lieben ... unerreichbare Sterne ansteuern ... Ja, all dies und dazu der felsenfeste Glaube an das Gute im Menschen sind Eigenschaften, die nicht nur mich beeindrucken, sondern zu guter Letzt auch die Personen in deiner Umgebung. Möglicherweise gehören dieser Glaube und Realitätsfremdheit zusammen, ist das eine unlösbar mit dem anderen verbunden. Womöglich geht es gar nicht anders, als dass ein Mensch wie du im Leben am Ende scheitert. Die besten Ziele lassen sich eben nicht ohne einen gewissen Sinn für Realisierbarkeit durchsetzen.

Was tut's? Der unverbrüchliche Glaube an dich und deine Aufgabe in der Welt, die Unerschrockenheit, die Unnachgiebigkeit, die Verbissenheit, mit denen du an deiner Sache dranbleibst, darin kann man sich wiederfinden. Mit der festen Überzeugung, daß Dinge in dieser Welt verbessert werden müssen, bist du Vorbild für andere. Diese Seite an dir - was unerreichbar scheint, erreichen wollen - ist ihnen wie ein Orientierungspunkt am fernen Horizont. Auch das Aufopfernde in deinem Wesen beeindruckt zutiefst. Denn wie schwer ist es doch, ein solches Maß an Opferbereitschaft aufzubringen! Egoismus und Eitelkeit sind dir fremd. Du tust die Dinge um ihrer selbst willen, nicht aus Geltungsbedürfnis. Und erst die Liebe, die du den Menschen entgegenbringst! Wie viel Selbstlosigkeit, Hingebung ist darin! Aber auch wie viel Blindheit angesichts der Schwächen der Menschen, die deiner Liebe teilhaftig werden. Liebe bis zur Selbstverleugnung - was für eine Aufgabe! In allen Dingen, die du tust, bist du maßlos. Immer wieder machst du Menschenunmögliches. Fortwährend überschreitest du Grenzen.

Stets bist du im Aufbruch, Don Quichotte, immer ist Abschiedsschmerz in dir. Wie schwer ist es doch, sich zu etwas Neuem aufzuschwingen. Aller Anfang ist schwer, ein Neuanfang nach vorherigem Scheitern noch schwerer. Und doch sind Aufbrüche immer wieder vonnöten. Alte Bahnen gilt es zu verlassen, neue Wege zu beschreiten. Das ist mit Schmerz verbunden. Ja, es tut weh, es ist mehr als nur unbequem und lästig, alte Gleise zu verlassen. Wie gern hat man sich häuslich eingerichtet! Aufbruch heißt auch Aufbruch in ungewisse Zukunft. Du weißt nicht, was dich erwartet. Aufbruch ist mit Angst verbunden. Was kommt da auf dich zu? Wirst du es schaffen? Übersteigt es nicht deine Kräfte? Und Aufbruch ist immer auch Abschied, Abschied von Vergangenheit, Gewohnheit, Bequemlichkeit. Aufbruch in die verschiedensten Richtungen, in den unterschiedlichsten Bereichen, ein Weg weit weg von dem, was du lange gefühlt, was du gedacht, was du gemacht hast, ein Weg nach vorn, manchmal auch einer zurück, nur kein Treten auf der Stelle, solange die Aufgabe nicht erfüllt ist. Das Aufbruchselement ist ein wesentlicher Teil von dir, Don Quichotte. Du denkst an nichts anderes als aufzubrechen. Aufbruch in unbekannte Gefilde ... ja, der Wille dazu ist ein Stück von dir.

Du bist ein unabhängiger Geist. Du brichst aus gewohnten Bahnen aus, befreist dich von den Fesseln, die dir die Gesellschaft angelegt hat, im Denken wie im Handeln. Du machst dich los von den Konventionen deiner Zeit. Du kümmerst dich nicht darum, was die anderen von dir halten. Das Urteil anderer Leute ist dir gleichgültig, du setzt dich darüber hinweg. Mit deinen - nach Meinung der anderen - unsinnigen Taten stellst du bisherige Anschauungen von dem, was ein Mensch zu tun und zu lassen hat, auf den Kopf. Dazu ist nur jemand fähig, der sich vom Urteil der Welt völlig gelöst hat, der die Richtlinien für sein Handeln ausschließlich aus sich selbst nimmt. Du orientierst dich nicht mehr an den Grundsätzen deiner Umgebung. Du setzt neue Maßstäbe, machst dich selbst zum Maß der Dinge. Du bist geradezu blind für die Reaktionen der Umwelt auf deine Taten und Abenteuer. Nie unternimmst du direkt den Versuch, deine Mitmenschen zu beeinflussen, sie von deiner Sache zu überzeugen. Gewiss, du willst die Welt verändern, verbessern, tust dies aber nicht, indem du andere für deine Ziele zu gewinnen suchst, indem du nach Mitstreitern Ausschau hältst. Du machst dich alleine auf den Weg. Du bist dir deiner selbst in allem, was du unternimmst, so sicher, dass du andere dazu gar nicht brauchst. Was für ein Ausmaß an Unabhängigkeit! Für dich gibt es nur dich selbst und dein Ziel, sonst nichts. Du bist frei.

Würde ich anders handeln? Würde ich mich anders verhalten, wenn ich ein so großes Ziel vor Augen hätte wie du? Wäre ich selbst in der Lage, zielbewusst vorzugehen und auf dem Weg dorthin fortwährend auf das Urteil anderer zu hören? Ich denke, beides ließe sich wohl schwerlich miteinander vereinbaren. Auf der Suche nach Neuem muss ich unabhängig sein. Ich muss meiner selbst sicher sein. Ich muss frei sein. Ich muss mich an meinen eigenen Maßstäben ausrichten. Und ich muss zutiefst von dem, was ich tue, überzeugt sein. Bin ich es nicht, dann sollte ich die Sache erst gar nicht in Angriff nehmen. Was käme dabei heraus, wenn ich mich von der Meinung anderer abhängig machen würde? Ich würde diesen fragen, ich würde jenen um Rat bitten. Von beiden erhielte ich unterschiedliche Ansichten. Ein Dritter, den ich befragen würde, machte die Angelegenheit mit seinem Urteil noch komplizierter. Am Ende wäre ich verunsichert und verlöre über kurz oder lang völlig die Orientierung. Sicher, die Meinung, der Rat des anderen, können manchmal hilfreich sein. Voraussetzung ist aber, dass mir mein Ziel klar vor Augen steht und da auch unverrückbar stehen bleibt. Der Weg zum Ziel mag beeinflussbar, veränderbar sein, nicht aber die angestrebte Richtung. Ich muss mir, wenn ich Rat einhole, auf jeden Fall die Unabhängigkeit bewahren, das fremde Urteil zu akzep‑
tieren oder zu verwerfen, Teile daraus in meine Überlegungen einzubeziehen oder es zu unterlassen.

Wo nimmst du nur all die Energie für deine Abenteuer her, du Mann von der Mancha? Wie viele Widerstände musst du immer wieder überwinden! Die Menschen erklären dich für komplett verrückt angesichts dessen, was du tust, was du dir in den Kopf gesetzt hast. Es ist doch schon schwer genug, den Willen aufzubringen, etwas Neues, etwas Ungewohntes, etwas Verrücktes in Angriff zu nehmen. Nun aber auch noch gegen den Widerstand der Menschen deiner Umgebung! Und du versuchst gar nicht erst, deine Mitmenschen zu überzeugen. Du tust einfach, was deine innere Stimme dir aufgibt - und scheiterst dabei jedes Mal von neuem. Denn keine deiner Unternehmungen führt zum Erfolg. Trotzdem lässt du dich nicht beirren. Scheitern, permanentes Scheitern, ist mit ungeheurem Kräfteverlust verbunden. Wie oft wirst du verwundet! Wie oft nimmt dein Körper Schaden! Deine Wunden müssen gepflegt, dein Körper muss wieder aufgerichtet werden. Nicht einmal körperlicher Schmerz kann dich davon abhalten, deiner Vision zu folgen. Von dem seelischen Schmerz, der dir überall zugefügt wird, weil die Leute dich für völlig verrückt erklären, weil sie nicht an das glauben können, wovon du felsenfest überzeugt bist - davon mal ganz zu schweigen!

Ich frage mich: Wo liegt die Quelle für diese Energie, für diese unermüdliche, nie versiegende Tatkraft? Wo nimmst du immer wieder den Willen her weiterzumachen? Wo ist der Ursprung für diese Willensstärke? Und dann diese Entschlossenheit, mit der du zu Werke gehst! Immer aufs Neue treibst du Sancho, deinen Diener, an, alles für den nächsten Aufbruch ins Ungewisse zu richten. Ist es der Glaube an die Idee vom vollkommenen Rittertum? Ist es der Glaube an die Verwirklichung deiner Ideale in dieser ach so schlechten Welt? Ein unverbesserlicher Optimist musst du sein. Ungeachtet aller Widerwärtigkeiten bist du fest entschlossen, alles Unrecht dieser Welt wieder gut zu machen, die beklagenswerte, unerträglich gewordene Welt, die so tief gefallen ist, die so grau, so hässlich, so abscheulich geworden ist, zu ändern, zu verbessern. Und du betrachtest es als eine Ehre, dich in den Dienst dieser Sache zu stellen. Ja, so ist es: Du hast eine feste Vorstellung von vollkommener Welt, du trägst eine Idee in dir, und du hast eine Vision, wie die Welt zu ursprünglicher Vollkommenheit zurückgeführt werden kann. Daran hältst du dich, daran richtest du dich aus. Sie gibt dir immer wieder die Kraft zum Aufbruch. Du bist überzeugt davon, dass sich diese Idee eines Tages durchsetzen wird und deine Vision Wirklichkeit wird.

Du machst mir Mut. Deine Energie, deine Tatkraft, deine Willenskraft brauche ich, wenn ich mein Ziel erreichen will. Vor allem brauche ich eine Vision wie du, wenn ich mich zum Handeln in der Welt entschließe. Und ich brauche eine Idee, wenn ich mich aufmache, etwas zu tun, ich brauche eine feste Vorstellung davon, wie alles werden soll. Man muss entschlossen sein, die Welt nicht so hinzunehmen, wie sie ist. Man muss sie verändern wollen. Man darf sich nicht damit abfinden, dass ein Zustand schlecht ist. Was nicht zu ändern, ändern - das ist Pflicht! Der unerschütterliche Wille zur Veränderung, mit der Idee von Vollkommenheit im Sinn, ist die Antriebskraft, die dich vorantreibt und die mir Vorbild ist. Die Kraft ist wie ein ES, nur halb bewusst, ganz tief in dir, ein Element, das dich bewegt, dich lenkt und führt, und dies auch dann, wenn's schwierig wird. Denn Schwierigkeiten gibt's genug, wenn Dinge nicht so bleiben können, wie sie sind. Probleme tun sich aller Orten auf, wenn man verändern will. Oft sind sie schon im Voraus klar zu sehen. Und doch ist dann da dieses ES, das wirkt und treibt, das dich nicht wanken lässt ...

Und dann die Liebe ... Was ist Liebe für dich, für dich als "Ritter ohne Furcht und Tadel", als "Ritter von der traurigen Gestalt"? So wie du dich siehst und gibst, als Ritter einer vergangenen, idealisierten Epoche, ist Liebe zu allererst ein Dienen: einer hohen Herrin dienen, Abenteuer für sie bestehen, ihr seine Tapferkeit beweisen. Liebe als Minnedienst, ein ständiges Sich-Sehnen, ohne jemals das Ziel zu erreichen. Liebe als etwas Fernes, Unerreichbares, Abstraktes. Liebe als endloser Weg, auf dem der Ritter niemals ans Ziel gelangt und schließlich verschmachtet. Zur Vereinigung mit der Angebeteten darf es nicht kommen. Das würde nicht ins Konzept der mittelalterlichen Vorstellung von Minne passen, so wie du sie verstehst, altmodisch wie du bist. Deshalb ist es ja auch so paradox, dass du dir als Objekt deiner Liebe gerade eine Hure, die Aldonza, erwählst, ein Werkzeug niedrigster Fleischeslust, Aldonza, das absolute Gegenbild einer hohen Frau, auf deren Gewinnung das ganze Denken und Tun des Ritters gerichtet ist. Don Quichotte, deine Liebe hat etwas Körperloses, Vergeistigtes. Es ist die Liebe als Idee. Ihr gilt dein ganzes Streben, der Liebe in ihrer Vollkommenheit, der Liebe als etwas Gedanklichem. Fleisch und Blut kommen darin nicht vor. Gefühl ist nicht dabei. Seelische Übereinstimmung mit der Geliebten gibt es nicht.

Bis zum Zerreißen lieben willst du. Das meint doch wohl weniger seelische Zerrissenheit als körperliche Selbstaufgabe - oder? Du willst dich für das Gold eines Wortes der Liebe ins Verderben stürzen. Immer wieder ziehst du ins unglückbringende Abenteuer, weil das zum Streben nach Vollkommenheit nun mal gehört. "Zerrissenheit", "Verderben", das sind die kräftezehrenden Abenteuer, die dich jedes mal fast das Leben kosten. Immer wieder leidet dein Körper. Mehr als einmal verleugnest du ihn, missachtest deine Gesundheit. Das gehört zu deinem Verständnis von Liebesdienst einfach dazu. Auch wenn dieser Dienst stets unvollkommen bleibt, wenn er übertriebene, ja groteske Formen annimmt, passt das noch in dein Bild vom Rittertum. Und das "Wort der Liebe", für dich das Höchste auf Erden, nach dem du immerzu strebst, ist abermals kein zärtliches Liebeswort, sondern vielmehr ein distanziertes Zeichen der Gewogenheit deiner angebeteten Herrin. Ich muss lächeln, wenn ich das sehe. Eine solche Liebe und die Art, wie du sie lebst und zeigst, wirken komisch auf mich. Oder liege ich da falsch? Sehe ich nur die Oberfläche? Verkenne ich die tiefere Schicht? "Ritter von der traurigen Gestalt", du machst die Sache wirklich mal wieder spannend ...

Was könnte deine Art zu lieben denn sonst noch bedeuten? Meinst du, dass es auch darum geht, den Partner bis zu innerer Selbstaufgabe zu lieben? Das hieße dann: sich hingeben ... die eigene Person hintanstellen ... sich selbst verleugnen ... dabei seinen Egoismus überwinden - all dies in doppeltem Sinne: Zum einen, ganz konkret und nach außen hin tätig: dienen .. sich einsetzen .. in jeder Lebenslage da sein ... helfen ... sich aufopfern. Zum anderen, eher abstrakt und nach innen hin tätig: das geliebte Wesen annehmen, wie es ist, mit all seinen angenehmen Seiten, aber auch mit sämtlichen Schwächen ... den anderen nicht ändern wollen ... ihm Gelegenheit geben, sich selbst zu entfalten ... sich auf ihn einstellen, ihm zuhören ... ihm mit Offenheit, Ruhe und Gelassenheit begegnen ... Verständnis zeigen und Toleranz aufbringen, auch dann wenn es schwer fällt. "Zerreißen" meint in dieser Dimension gewiss auch: das eigene ICH unter Umständen auf eine harte Probe stellen. Gerade in der Liebe kann es Konfliktsituationen geben, die uns das Letzte abverlangen, wenn wir nämlich gezwungen sind, um der Liebe zum Partner willen uns ganz zurückzunehmen, damit es nicht zum Bruch kommt. Das ist es: bis zum Zerreißen lieben, nicht bis zum Riss!

"Durch Liebe will bis zum Zerreißen ich mich zäumen ...", mir Zaum und Zügel anlegen, mich bändigen ... Was für ein Maß an Unterordnung! Wie viel Hingabe und Aufopferung! Eine schier übermenschliche Aufgabe, die du dir hier gestellt hast, Don Quichotte, und der man, will man ihr nacheifern, nur unvollkommen nachkommen kann. Doch auch darum geht es in der Liebe immer wieder: nicht aufgeben! Du sagst zu dir: "... bei unvollkomm'ner Liebe nicht an mir verzagen" - ja, es gilt niemals nachzulassen in der Liebe, permanent an sich und seiner Liebe zum Partner zu arbeiten. Auch hier haben wir es wieder mit einem willensgesteuerten Prozess zu tun, einem Prozess allmählicher Annäherung: Schwächen, Fehler, die unsere Liebe aufweist, beseitigen wollen, darauf kommt es an. Der Wille zur Vervollkommnung also auch in der Liebe. Gesprächsbereitschaft muss vor allem da sein. Im Gespräch, durch Reden Mängel in der Liebe erkennen und aufarbeiten. Wie wichtig ist es dabei, daß beide Teile bereit und in der Lage sind, über Gefühle, auch über negative Empfindungen zu sprechen! Nur wenn sie Gefühle benennen und versprachlichen können, ist es ihnen möglich, sie zu beeinflussen, zu verändern. - Ich merke, dass ich mit meinen Gedanken über dich, du alter Mann von der Mancha, weit hinausgegangen bin. Denn bei dir finde ich doch eigentlich nur die Liebe in der Idee. Nur sie hast du im Sinn. Du hängst einem ritterlichen Ideal nach. Liebe kommt bei dir deswegen nur zum Teil in den Blick. Als Gefühl ist sie dir, wie ich schon angemerkt habe, unbekannt. Trotzdem: du liebst bis zum Zerreißen und gibst niemals auf. Liebe ist bei dir ein Stück Arbeit, vor allem Arbeit an sich selbst.

Du bist dein Leben lang auf der Suche nach dem Glück. Nun gut, jeder Mensch ist es, jeder sucht sein persönliches Glück, das ist an und für sich nichts Besonderes. Jeder möchte glücklich werden. Doch was heißt das bei dir: "Glücklich-Sein", "Glück"? Bei dir ist es doch viel mehr als ein undifferenziertes, momentanes Glücklich-Sein, mehr als ein Gefühl des Wohlbefindens, mehr als eine Empfindung vorübergehender Zufriedenheit. Glückssuche hat bei dir etwas mit Erfüllung einer Bestimmung zu tun. Deine Bestimmung, deine selbstgewählte Bestimmung, besteht darin, die Unvollkommenheit der Welt zu reparieren, die Welt wieder vollkommen zu machen. Du bezeichnest es als deine Ehre, dich in diesen Dienst zu stellen. Die Suche nach Vervollkommnung als Glückssuche, Vervollkommnung der eigenen Persönlichkeit zunächst, dies nun aber nicht als Selbstzweck, als egoistisches Ziel, sondern im Dienste einer Sache: der Vervollkommnung der unzulänglichen Welt zum Wohle der Menschheit. Bei dir ist allerdings alles überhöht: du ziehst als Ritter los, du tust es im Dienste der Ehre, in deinem Tun verspürst du den Hauch der Geschichte, du suchst den Ruhm. Du bist ja der "Ritter ohne Furcht und Tadel". Als solcher handelst du dann in einer Welt, die deinen veralteten Vorstellungen ganz und gar nicht mehr entspricht, in einer Welt, die in ihrer Niedrigkeit, Gemeinheit, Banalität in starkem Kontrast zu deinen überholten Idealvorstellungen steht.

Das wirkt komisch. Es wirkt komisch, weil ein unübersehbarer Widerspruch zwischen Wollen und Tun im Handeln besteht, ein Missverhältnis zwischen Ideal- und Realwelt. Die reale Welt, die den Schauplatz und das Objekt für dein Handeln abgibt, ist ja völlig anders, als du sie dir vorstellst. Durch diesen Gegensatz tritt dann deine Botschaft auch in aller Deutlichkeit hervor. Nun ist es jedoch beileibe nicht so, dass du dich grundsätzlich lächerlich machst, selbst wenn du in allem, was du denkst und tust, ziemlich lächerlich wirkst. Der Widersinn, die Unvernunft, die Sinnlosigkeit in deinem Tun helfen mir beim Erkennen. Ich begreife im Lachen. Durch die Absurdität deiner vielen Aktionen werden mir die Dinge deutlich. Verstehendes Lachen, weil ich Unvereinbares sehe und Zusammenhänge erfasse. Deine Botschaft wird durch Übertreibung vermittelt: denn du bist ja die Karikatur des edlen Ritters, und Aldonza ist die Karikatur der edlen Ritterdame. Die Niedrigkeit der Welt wird dadurch entlarvt, dass du als verblendeter, um längst verlorene Ideale kämpfender Edelmann auftrittst und handelst. Die Zeit hat dich überholt. Nun lacht die Welt über dich und erkennt.

Es geht hier aber nicht nur um Entlarvung, um Bloßstellung der traurigen Realität. Es geht um ihre Veränderung. So wie du bist, wie du dich gibst, wie du handelst, erkennt man, wie Veränderung erreicht werden kann. Du weigerst dich konsequent, die Welt und die Menschen so zu sehen, wie sie sind. Du akzeptierst ihre Niedrigkeit nicht nur nicht, du negierst sie, du nimmst sie nicht wahr, du willst sie nicht sehen. Durch die besondere Art deines Handelns wertest du Welt und Menschen auf. Durch deine durchgängig positive Sichtweise veränderst du Welt und Menschen in positiver Weise. Aldonza, die Hure, wird durch dich ein Mensch, der plötzlich wieder den eigenen Wert entdeckt, weil er von dir als wertvoller Mensch behandelt wird, der wieder zur Liebe befähigt wird, weil du ihm wahre Liebe zuteil werden lässt. Auch die anderen Menschen erfahren eine Veränderung an sich durch die Art, wie du ihnen handelnd gegenübertrittst. Das Verblüffende daran ist, dass du - trotz deiner abstrakten Idealvorstellungen, mit denen du ausziehst, die Welt zu verändern - Menschen verwandelst, ohne sie gewaltsam zurechtzubiegen. Du akzeptierst sie so, wie sie sind. Ohne Vorbehalte nimmst du sie mit all ihren Schwächen an. Veränderung durch positive Sichtweise? So oder ähnlich muss man dich in deinem Handeln verstehen. Was für ein Optimist, was für ein Idealist du doch bist! Überraschend ist, dass dein Handlungsprinzip ganz offensichtlich funktioniert. Durch die Art, wie du die Menschen behandelst, erfahren sie eine Veränderung an sich. Du machst sie glücklich, zumindest ein bisschen glücklicher, als sie es vorher waren. Deswegen erfahren sie deinen Tod, dein Verschwinden aus der Welt, schließlich als großen Verlust.

Ich frage mich noch einmal: Was ist das, das Glück des Don Quichotte? Mir reicht nicht aus, was ich bislang als dein Glück erkannt habe. Denn vielleicht ist es ja bei diesem deinem Glück wie mit deiner Liebe. Womöglich weist es wie diese über sich hinaus und zeigt mir noch eine andere Dimension. Bei deiner Quête, deiner Suche nach Vervollkommnung, bist du natürlich auf der Suche nach Erfolg. Du willst etwas Wünschenswertes, etwas Schönes und Gutes erreichen. Es geht dir darum, die Widrigkeiten der abscheulichen Welt zu überwinden und die Gesellschaft in ihren Idealzustand zurückzuführen. Mehr noch, du versuchst dein Glück, du forderst es heraus, du wagst etwas. Ja, so ist es: Glückssuche ist mit Herausforderungen verbunden, ist immer ein Wagnis. Beides, Herausforderung und Wagnis, bergen in sich die Möglichkeit des Scheiterns. Und du scheiterst ja nun wirklich immer wieder bei deinen Abenteuern! Oder etwa nicht? Vermittelst du uns möglicherweise trotz deines permanenten Scheiterns oder gerade deswegen den Glauben an das Positive, an das Gute im Menschen und in der Welt? Vielleicht bist du gar kein tragik-komischer Held, weil du nämlich nur vordergründig in allen deinen Unternehmungen scheiterst ... Auch wenn es dir nicht gelingt, bei deinen absurden Abenteuern real erfolgreich zu sein, so hast du doch die Menschen deiner Umgebung positiv verändert. Du hast ihnen so etwas wie den Glauben an sich selbst und den eigenen Wert zurückgegeben. Dies ist ein schöner Erfolg. Und so hast du denn auf deinem Weg zumindest ein Stück von deinem Glück gefunden.

Allein, ich kann bei dem "Ritter ohne Furcht und Tadel" keinen Unterschied zwischen einem privaten und einem beruflichen Glück erkennen. Sag mir, Don Quichotte, im Grunde ist dir doch ein Glück fremd, das nur dir gilt, das nur dich betrifft, ein Glück, das du nur für dich allein suchst? Du handelst mit einem inneren Auftrag, für den es keine Trennung gibt. Deine Glückssuche steht immer mit dem Gemeinwohl in Beziehung. Deine Vision besteht darin, die Gesellschaft wieder in ihren ursprünglichen Idealzustand zurückzuversetzen. Du willst nichts für dich, du willst alles für andere. Deine Berufung besteht darin, die arg lädierte Welt besser zu machen.

Ich kann mir vorstellen, dass es nicht nur dir so geht, dass es auch noch andere Leute gibt, für die die Befriedigung im Berufsleben mehr oder weniger identisch ist mit dem Erfolg, den sie für sich selbst als Mensch suchen. Diesen Menschen fällt es manchmal schwer zu trennen. Bei ihnen rückt das Berufliche so sehr in den Vordergrund, daß für sie, gleich dir, allein das zählt. Wie du folgen sie einem fernen Stern, einer Art Vision, bemühen sich um einen Idealzustand, wie weit die Realität davon auch immer entfernt sein mag, wie groß die Widerstände, die sich einer Veränderung entgegenstellen, auch immer sein mögen. Durch Schwierigkeiten lassen sie sich nicht irritieren, scheuen selbst Konflikte nicht. Manchmal scheinen sie wie besessen von der Idee, Dinge verbessern zu wollen. Niemals mögen sie sich mit einem unbefriedigenden Zustand abfinden, suchen immer nach neuen Wegen, die Dinge positiv zu beeinflussen. Nie geben sie auf. Und ich denke, dass ein solches Streben im beruflichen Bereich dem von dir gemeinten Streben nach Glück vergleichbar ist. Solche Bemühungen, selbst wenn sie sich nur auf einen kleinen Ausschnitt der Welt beschränken, sind zumeist immer auch einem allgemeinen Interesse verpflichtet. Nicht für sich wollen diese Menschen Dinge ändern, sondern für andere. Nicht ihrem eigenen Wohle gilt der Wille zur Veränderung, sondern einem allgemeinen, öffentlichen Wohle. Die persönliche Glücksuche fällt hier zusammen mit einer über-persönlichen.

Nun gut, ich möchte dennoch zwischen einem privaten und einem beruflichen Glück unterscheiden. Die Suche nach Glück muss sich nicht unbedingt auf die Suche nach dem einen Glück beschränken. Es gibt sicher auch noch ein privates Glück. Wie sieht es aus? Dieses Glück fällt einem genauso wenig in den Schoß wie das andere, es fällt nicht vom Himmel, es will stets aufs Neue erarbeitet sein. Doch was heißt das: an seinem Glück arbeiten? Was ist das in der zwischenmenschlichen Beziehung? Wie kommt es zustande? Wie bleibt es erhalten? Nicht nur die Glückssuche ist ein nie endender Vorgang, sondern das Glück selbst ist keine konstante Größe, kein unveränderlicher Besitz. Das kommt schon in unseren Sprichwörtern zum Ausdruck: "Das Glück hat Flügel" ... "Geflügelt ist das Glück und schwer zu binden" ... "Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da" ... Immer wieder aufs Neue muss ich mich um das Glück bemühen. Es kommt nicht von alleine, und wenn es da ist, muss ich es zu halten versuchen.

In dem Verhältnis von mir zu einem anderen geliebten Menschen bedeutet dies, daß ich ständig an der Beziehung arbeiten muss, wenn sie glücklich bleiben soll. Wie das Glück so ist auch der Partner kein Besitz - ein für alle Male erworben, unwandelbar, unantastbar. Ich muss mich immer wieder um den anderen bemühen. Ich muss jeder Zeit bereit sein, mich auf ihn einzustellen, mich selbst zurückzunehmen, um den anderen nach vorne zu lassen. Ich darf ihn nicht dominieren wollen. Ich darf ihn nicht verändern wollen. Ich muss ihn immer wieder wie eine Neuentdeckung staunend betrachten. Ich muss mich von dem überraschen lassen, was an Unbekanntem, an Noch-nicht-Entdecktem in ihm ist. Ich muss in ihn hineinhorchen, um in Erfahrung zu bringen, was er möchte, was nicht. Ich muss mich fähig machen, dem anderen die Wünsche von den Lippen abzulesen. Alles in allem: Auch die Beziehung ist ein Prozess, ein Prozess, der nie endet. Nur so kann sie glücklich sein. Und so gilt denn auch für die Zweierbeziehung, für die Liebe zwischen zwei Menschen, was du, du bewundernswert-skurriler, unvergleichlich-komischer und doch so liebenswerter Ritter Don Quichotte als dein Ziel verkündest:

Ich weiß nicht, ob ihr mich dereinst als Helden seht,
mein Ziel jedoch, es zieht mich an wie ein Magnet:
das Glück, den Stern, der unerreichbar scheint, erreichen.

Frühjahr 2000