Das einzigartige Unternehmen der Sanierung und Erweiterung des ältesten weltlichen Gebäudes Braunschweigs, der um 1250 erbauten Jakobkemenate, wird in dem Text-/Bildband (+ CD) in der ungewöhnlichen Form einer balladesken Reimchronik nach alten Vorbildern poetisch „aufgearbeitet“ und dokumentiert. Der Text wird von einem Bilderbogen begleitet, der die Geschichte der Kemenate von ihren Anfängen bis in die Gegenwart in 60 Abbildungen und Fotos so nachzeichnet, dass jeweils auf der linken Seite der Balladentext und auf der rechten das dazu passende Bild erscheint. Auf der CD wird der Text vom Autor selbst vorgetragen. Peer Kleinschmidt, Komponist (HFF Potsdam-Babelsberg), umrahmt ihn mit Klavierimprovisationen, die Gedichtaussage dabei klangmalerisch nachzeichnend.
„Ich bin dann mal da“
Sankt Jakob ist heute wieder ein populärer Mann. Wenn schon Fernsehkomiker auf seinen Wegen pilgern, dann muss was dran sein an dem Jünger Christi mit der Muschel am Revers. „Ich bin dann mal weg“, sagen die Wanderer unserer Tage, die endlich mal aussteigen wollen aus dem drängenden Kreislauf von Gelderwerb und Konsum, der das Leben sichern soll und es dabei stiehlt.
„Ich bin dann mal da“, sagt der überlegen lächelnde steinerne Jakob auf dem Sims gegenüber der wiedererstandenen Kemenate. Was einst Rückzugsbau war bei Nacht, Feuer und sonstiger Gefahr, ja ein Tresor sogar für weltliche Schätze, ist nun Sammlungsort der Herzen und Sinne. Ein innerer Jakobsweg für alle, die nicht mal eben nach Compostela pilgern können.
Dieses unzeitige Wiederentdecken der notwendigen Ruhezonen im ökonomischen Dauerstress ist aber dennoch nicht getragen von Mittelalter-Romantik.
In vieler Hinsicht haben wir’s leichter, in vieler Hinsicht sind wir freier, und das ist auch gut so. Aber ein altes, von Geschichte geschrundenes Gemäuer wie die Jakob-Kemenate zeigt uns auch, wie unsicher unser Bauen und Schaffen ist, und sei es auf Stein gesetzt. Was der Krieg nicht zerstörte, vernichtete respektlos ein einst moderner Geschmack, dem Zweckmäßigkeit und Effektivität vor romantischer Erinnerung ging.
Jochen Prüsse gehört zu den Einsichtigen, die Erworbenes teilen und mitteilen wollen und sich so auch selbst die Freude daran erhöhen. Er rettete die verwahrloste Ruine und schuf eine Kemenate, die nicht mehr Trutzraum ist, sondern Ort der Begegnung. Eine Begegnung von Alt und Neu, wie es die Architektur schon zeigt, die Wert legt auf all die zufälligen Zeugnisse vergangener Nutzungen und Zerstörungen. Und eine Begegnung von Menschen unterschiedlicher Ideen, wie es die doppelte Stahlskulptur von Jörg Plickat vor dem Haus ausdrückt.
Genau auf diese Begegnung ist auch Eberhard Kleinschmidts „balladeske Chronik“ angelegt, die in Versmaß und Reim der alten Form der Sangspruchdichtung folgt. Und sind auch die Worte von heute, so ist es der Grundgedanke noch lange nicht. Angeregt durch die spürbare Zeitlichkeit der überdauerten Kemenate, schlüpft er in die Rolle des fahrenden Sängers des Mittelalters, der von Hof zu Hof zog, um sich durch Betrachtungen über Gott und die Welt und die Politik der Herren sein Leben zu verdienen. Nun fällt der pekuniäre Aspekt im Falle dieser Chronik zwar weg, doch geblieben ist der Wunsch, die Hörer durch spannende Erzählung aufzurütteln, sie zuweilen etwas ironisch zu unterhalten und ihnen doch ein wenig Mahnung, ein paar andere Gedanken als die der
alltäglichen Lebenssorge mit auf den Weg zu geben. Kleinschmidt hat sich dafür die sympathische Figur des Jakob auf dem Simse ausgesucht, der zwar erst in neuerer Zeit für die Jakobskapelle gegenüber geschaffen wurde, aber doch dreinschaut wie manche alte skurrile Steinmetzfigur, die unter Kapitellen oder vorkragenden Erkerbalken hervorlugt.
Auch an frommen Häusern tragen solche Figuren oft einen frechen Gesichtsausdruck. Sie scheinen von da oben herab zuweilen etwas spöttisch das ewige Mühen der Menschen zu beobachten. So auch der Jakob auf dem Simse von Alf Setzer. Kleinschmidts moderner Sangspruchdichtung kommt das nur zupass. Ehrlich erschrocken ist der heilige Jakob über solch menschlichen Unsinn wie Krieg, nochmals ernstlich verwundert über die Planierungen der Wirtschaftswunderzeit. Und so kann er es erst auch gar nicht fassen, dass nunmehr im neuen Jahrtausend die Handwerker auch mal zum Aufbauen anrücken, dass sie das historische Gemäuer schützen und festigen und mit neuen starken Elementen wieder einem Ensemble zuführen, wie es der Kemenate auch früher immer zur Seite gestanden hat.
Kleinschmidts Spiel mit den mittelalterlichen Formen geht so weit, dass er eifrig Bilder gesammelt hat zu seiner Chronik, so dass man sie nun Blatt für Blatt durchgehen kann mit dem Zeigefinger wie einst der Moritatensänger es auf seiner Schautafel mit dem Zeiger tat. Und Kleinschmidt singt auch wie seine historischen Vorgänger. Während Sohn Peer die stimmungsvolle Klangkulisse gestaltet, spricht er die Strophen auf langem Atem geschickt über die Vers-Enden hinweg und stellt so die Sinneinheiten wieder her, die das Schriftbild oft verschleiert. Die CD liegt bei, und am schönsten ist dieses Buch eigentlich zu genießen, wenn man es beim Hören der CD mit durchblättert.
Eine ziemlich moderne Form, nicht? Ja, der Sangspruchdichter, Sankt Jakob und die Kemenate sind angekommen im neuen Jahrtausend. Doch ihr Anliegen ist unverändert. Sie wollen die Menschen für Momente rausholen aus dem Alltag und anregen zu Gedanken und Gesprächen über Gott und die Welt. Und weil Künstler am Werk sind, darf das auch Vergnügen machen. Schauen Sie mal rein, der Jakob ist schon mal da.
Andreas Berger
„Was hat sich der dabei gedacht,
der mich hier hinten angebracht,
in Stein gemeißelt, hoch erhoben!
Soll ich ihn dafür auch noch loben?
Seit vielen, endlos langen Jahren
blick’ vom Gesimse ich nach Osten
und bin hier auf verlor’nem Posten.
Die Situation scheint festgefahren!“
Voll Zorn an der Kapellenmauer
ist stumm Sankt Jakob auf der Lauer
und wartet drauf, dass was passiert
im Hinterhof, wo ausrangiert
und zugesperrt ein alt’ Gemäuer
herumsteht, ohne Zweck, vergessen,
von Wildwuchs beinah’ aufgefressen,
an einem Ort, der nicht geheuer.
„Blick’ ich zurück, packt mich die Wut!
Mit frevelhaftem Übermut
hat man dies alte Haus verbannt:
der Teil, der vormals vorne stand,
verschwand mitsamt dem Areal,
zu dem es einst so stolz gehörte,
weil alles einen Neubau störte.
Auch meine Straße kappen, war brutal!
Der Blick zurück im Zorn wird milder,
wenn ich erinnere die Bilder
vergang’ner Zeiten, die verblasst,
verwischt durch der Jahrhundert’ Last.
Die Öde hier vor meinen Augen,
sie tritt zurück, sie sich belebt
mit Menschen voller Kraft, bestrebt,
Gott kund zu tun, wozu sie taugen.
Die Zeit, sie teilt, sie heilt, sie eilt,
nicht einen Augenblick verweilt.
Was hat in achtmal Hundert Jahren
sie in den Mauern nicht erfahren?!
Der Menschen Freud’ hat sie gesehen,
der Menschen Leid hat sie geschaut,
ihr Lachen, Weinen war’n ihr wohlvertraut …
und strich darüber hin, sowie’s geschehen …
Ich sehe viele Menschenalter,
in denen Menschen als Verwalter
all der Gebäude tätig waren.
Ich sehe ganze Menschenscharen
hier emsig eilen, Handel treiben,
erpicht, dass ihr Geschäft auch glückt,
zugleich vom Alltag schwer bedrückt.
Ich seh’ das Leben sie zerreiben.“
Sankt Jakob schaut und denkt und sinnt …
Die Zeit im Rückwärtsgang verrinnt …
Und plötzlich in der Jahre Lauf
taucht dann die Kemenate auf,
wie sie dereinst, aus Stein erbaut,
mit Fenstern, Giebeln, Dach bestückt,
dort eckbegrenzend stand gerückt
und ihm von früher her vertraut.
Nicht torsohaft, nein, voll und ganz
erscheint sie ihm in altem Glanz.
Wie wehrhaft, trutzig sieht sie aus!
Ein sich’res Wohn- und Speicherhaus,
in dem bei Krieg sich Menschen schützen,
in dem bei Brand sie wohlverwahrt,
verstaut sind Waren aller Art,
und das wie ein Tresor zu nützen.
„So war es doch“, Sankt Jakob spricht
und sieht vor sich im Traumgesicht
die Zeit, da hier ein Leihhaus stand,
mit dem das Steinhaus sich verband.
„Da war das Geld gut aufgehoben.
Mit Umsicht man’s auf Zins verlieh,
damit Gewerbe gut gedieh
und Wucher funkengleich zerstoben.“
Die Blütezeit, sie schwindet hin …
Und dann verfinstert sich sein Sinn …
Am Himmel ziehen Wolken auf;
sie drängen, türmen sich zuhauf.
Was Land und Mensch so klar erhellt,
das Licht, es bricht, die Nacht setzt ein,
und dunkler Schatten düst’rer Schein
wie ahnungsschwer herniederfällt.
Und Feuerstrahl auf Feuerstrahl
schießt aus den Wolken ohne Zahl.
Ein Flammenheer walzt wütend nieder,
was sich entgegenstellt. Und wieder
und wieder Balken bersten, Dächer fallen,
Gemäuer sinken, Scheiben knallen
und Mauern krachend zusammenprallen,
dass Wände davon widerhallen …
S’ist Krieg. Zerstörung ringsumher.
Ganz ausgebrannt und menschenleer
erschaut der Heilige das Areal.
Verstört, bestürzt, voll inn’rer Qual
sieht Mauerreste, hohle Fenster
er dort, wo früher Fachwerk war.
Ihm ist, als schwele hin ein Mahr.
Ein Ort nur noch wie für Gespenster.
So liegt er da gar manches Jahr,
bis anrückt abermals Gefahr.
Zerstörung jetzt sich wiederholt.
Was blieb, erhaltenswert, verkohlt,
an Fenstern noch vom Kriegsgeschehen,
die Säulen, Bögen, Kapitelle,
wird abgerissen auf der Stelle.
Gestutzt, das Steinhaus bleibt bestehen.
„Ich fühl’ mich hier ganz eingekeilt.
S’wird Zeit, dass jemand kommt und heilt,
was Menschenhand hat angerichtet,
und diesen Hinterhof mal sichtet! ---
Sieh’ da, ich mag es gar nicht glauben!
Es tut sich was. Man kommt, man schaut,
man prüft und plant, betraut und baut.
Wird man das Steinhaus jetzt entstauben?“
Sankt Jakob überglücklich ist:
„Du endlich nicht allein mehr bist!
Da kommt ein Mann, der möchte teilen,
verschwenderisch durch Geben heilen,
ein Mann, den Visionen treiben:
‚Begegnung schaffen, heiter, offen,
damit die Menschen wieder hoffen!
Ruinen dürfen so nicht bleiben!’
Ein solcher Grundsatz mir gefällt!
Dass Mensch zu Mensch sich hier gesellt,
dies macht ihn weit, dies macht ihn reich,
er fühlt sich gut, ja fühlt sich gleich
viel besser, weil er nun selbst darf teilen
mit and’ren, was er hat und kann,
was er erlebt mal irgendwann,
und darf im Augenblick verweilen.“
Und nun wird’s erstmal richtig laut.
Doch das Sankt Jakob leicht verdaut.
Denn weiß er ja, worum’s jetzt geht
und welches Ziel vor Augen steht.
Das ist ein Bauen, Mauern, Setzen,
ein Sägen, Nageln, Hämmern und Klopfen
und ein Schweißen und Nieten, Verfugen, Verstopfen
und am Ende ein einziges Drängen und Hetzen …
Dann steht sie da, die Kemenate,
in neuer Pracht, wie sie der Pate
in seinem Traume sich erdacht,
wie sie zum Leben jetzt erwacht.
Der Heilige indes, verdutzt,
reibt sich die Augen, guckt und schaut
befremdet, was man da erbaut.
„Wozu der viele Rost wohl nutzt?
Gewiss, als ein Ensemble wieder-
erstanden, sind’s nun drei der Glieder:
das Wohnhaus vorn, aus Glas das Foyer,
das Steinhaus fast wie eh und je.
Nur, was um Himmels Will’n bedeuten
die beiden Säulen vor der Tür?
So rostig, kantig, eingeknickt! Wofür?
Wie soll man das erklär’n den Leuten?
Jetzt merk’ ich’s erst: das sind Skulpturen,
einander zugewandt, Figuren,
im Wechsel redend. - Ihr da, sagt,
wie heißt ihr, die ihr alles überragt?“
„Wir sind erdacht als ‚Dialog’,
auf dass sich Alt mit Neu verbinde
und stimmig zueinander finde,
und für Begegnung als Prolog.“
„Nun gut, jetzt sagt mir aber noch,
warum ist auferlegt als Joch
der Rost dem Haus, dem Dach und euch!
Dass alles mit der Zeit entfleuch’?“
„So ist’s. Die Zeit ist Wandel, Werden,
Vergehen. Nichts bleibt ewig stehen.
Man soll es am Gebäude sehen:
vergänglich alles ist auf Erden.“
Und nun, da alles fertig ist,
der Tag, den Jakob nicht vergisst,
der Tag, den sehnlichst er erwartet,
der Tag, der einzig ist geartet:
Nach ihm das Bauwerk wird benannt,
fortan als Jakobkemenate
dem, der den Stadtplan zieht zu Rate,
mit diesem Namen wird bekannt.
Zufrieden schaut er auf die Feier,
in der gelüftet wird der Schleier
und offenkundig nun gemacht,
was Kunst und Denkmalschutz erbracht.
„Wie schön, dass ich nach so viel Jahren
blick’ vom Gesimse hin nach Osten
auf ein Gebäude, das zwar rosten,
doch auch die Tradition soll wahren!“
Eine Ballade über das Kemenatenwunder. Von Marianne Winter. Sie führte überhaupt kein Dasein, die älteste Kemenate Braunschweigs. Als verdorbenes Kriegsfragment, längst überfällig abbruchreif zwischen ungestalteten Hinterhöfen am Eiermarkt welkte sie dahin - bis jemand über ihre 800jährigen Wurzeln stolperte und die Auferstehung zustande brachte. Dank der Vision von Menschen, die träumen können und aktiv werden […] gelang, dem Phönix aus der Asche gleich, die Verwandlung zur Vorzeigearchitektur für Einheimische und Touristen, vielbeachtet und gelobt in der Medienlandschaft. […] Diesem Kemenatenwunder ist ein Bildband gewidmet, dem die persönliche Begeisterung über die Neuerschaffung anzumerken ist. Verfasst wurde der Text von Eberhard Kleinschmidt mit einem Vorwort von Andreas Berger, musikalisch untermalt von Peer Kleinschmidt, dokumentiert anhand einer Fülle von Bildern aus Vergangenheit und Gegenwart von Andreas Bormann. […] Hier berichtet der Pilgerheilige als Bänkelsänger und Mauergucker in Form einer Ballade mit lebendiger Sprache vom Zauber der architektonischen Auferstehung. […] Ein heiter zu konsumierendes Buch […]
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